„Eine Reise in die Vergangenheit“ – Buchbesprechung in der BERLINER MORGENPOST

12. Juni 2013

Nordböhmen: Theresienstadt war Festung, Garnison, Getto, Lager, KZ

Von Michael Hegenauer, erschienen in der Printausgabe der BERLINER MORGENPOST am 12.6.2013

Dieses Buch lädt allen Ernstes zu einer touristischen Reise nach Theresienstadt ein. Bücher gegen die herrschende Meinung haben es nicht gerade einfach, weil sie auf den ersten Blick so gar nicht ins Bild passen. Ein solches Buch ist „Theresienstadt. Eine Zeitreise“. Auf 368 Seiten gelingt es ihm, mit vielen Fotos, Plänen und Dokumenten die Geschichte dieser einzigartigen Kleinstadt in Nordböhmen nachzuerzählen – und spontane Reiselust zu schüren.

„Wie, Kleinstadt? Theresienstadt war doch ein KZ!“, mag man spontan denken. Und genau hier beginnt die Sache spannend zu werden: Theresienstadt in Nordböhmen, das heute Terezín heißt, war und ist eine Stadt, noch dazu eine überaus idyllische. Hier soll eines der schlimmsten Gettos der Nazizeit gewesen sein? Wo denn?

Tatsächlich stellen viele spontane Besucher, selbst ehemalige Überlebende des Gettos, sich am Ort – 60 Kilometer nördlich von Prag – oft verwundert diese Frage. „Hier überall“, lautet die Antwort der Berliner Autoren Uta Fischer und Roland Wildberg, die nach eigenem Bekunden selbst solche Beobachtungen machten. Dabei mag der Gedanke entstanden sein, die gesamte Geschichte der Stadt in einem Buch zusammen zu fassen. Warum das eine Rolle spielt, wird bereits im Vorwort erläutert: „Um Theresienstadts Funktion als Getto zu verstehen, muss man seine Festungsvergangenheit kennen.“ Denn die Stadt, die von 1941 bis 1945 für mehr als 150.000 Juden aus Deutschland, Österreich, Tschechien und anderen Ländern zum gigantischen Gefängnis wurde, war ursprünglich eine mächtige Festung.

 

Teil eines Festungssystems

Und sie ist es – theoretisch – bis heute geblieben: Die gewaltigen Mauern aus rotem Backstein, das zeigen zahlreiche Farbfotos in dem üppig illustrierten und sorgsam layouteten Buch, stehen noch heute. Erbaut wurde Theresienstadt im Rahmen eines ganzen Systems neuer Festungen von den Österreichern – nach dem Schock der Schlesischen Kriege, man wollte für künftige Kriege gegen Preußen gerüstet sein.

Die Kaiserin Maria Theresia war Auftraggeberin und Namenspatronin. Um das Elbtal gegen den Feind im Norden zu sichern, entstand dort zwischen 1780 und 1790 eine Großbaustelle von gewaltigen Dimensionen. Das mächtigste und modernste Bollwerk seiner Zeit wurde komplett in Handarbeit errichtet. Überaus lebendig und illustriert durch viele alte Baupläne schildern die Autoren dieses Unternehmen. Millionen Kubikmeter Erdreich wurde von insgesamt 14.000 Arbeitern per Schaufel bewegt, der Fluss Eger um etwa einen halben Kilometer nach Osten verlegt, ein Kanalsystem ausgehoben, Millionen von Ziegeln vor Ort gebrannt und vermauert, ein 29 Kilometer langes System unterirdischer Gänge gegraben, die im Belagerungsfall gesprengt werden sollten.

Dazu ist es nie gekommen: Theresienstadt blieb ein Angriff erspart, die Festung hat alle Kriege kampflos überstanden. Doch während der deutschen Besetzung wurden Gestapo und SS auf die Anlage aufmerksam. Schon immer, so führen die Autoren aus, haben sich Festungen auch als Gefängnis geeignet; und auch Teile von Theresienstadt waren bereits zur Kaiserzeit als Militärgefängnis genutzt worden.

So fiel die Wahl der Nazis auf Theresienstadt, als ein Sammel- und Durchgangslager für die Juden Böhmens und Mährens gesucht wurde. Und das unheilvollste Kapitel der Stadtgeschichte nahm seinen Lauf: die Umwandlung einer ganzen Stadt in ein Lager. Wo einst etwa 7000 Bürger und Soldaten gelebt hatten, waren nun bis zu 59.000 Häftlinge gleichzeitig zusammengepfercht – nicht nur in den Häusern und Kasernen, sondern auch in feuchten Kasematten und auf düsteren Dachböden. Noch heute sind überall in Theresienstadt Spuren aus dieser Zeit erhalten, wie zahlreiche Fotos im Buch zeigen.

Die Enge war beabsichtigt; sie war „im Sinne der SS, die eine ’natürliche Dezimierung‘ noch vor dem Weitertransport nach Osten anstrebte“. Tatsächlich starben Zehntausende Häftlinge an Krankheiten und Entkräftung, noch viel mehr wurden weiter verfrachtet zum Massenmord – überwiegend nach Auschwitz.

Auch die vielen großen und kleinen Tragödien dieser dunklen Epoche, die in einem Propagandafilm der Nazis über das vermeintliche „jüdische Siedlungsgebiet“ gipfelte, werden im Buch nicht ausgespart. Die Gesamtdarstellung hat „Theresienstadt. Eine Zeitreise“ übrigens das Lob von Wolfgang Benz, Koryphäe der Holocaust-Forschung, eingebracht, der die Lektüre ausdrücklich zum Lesen empfiehlt.

 

Anwärter auf das Weltkulturerbe

Insbesondere das handliche Format, die sorgfältige Auswahl der Bilder (einige von ihnen wurden erstmalig veröffentlicht) und die ergreifenden Texte machen dieses Theresienstadt-Buch besonders. Dank einheitlicher Farbmarkierung und Piktogramme für eine „intuitive Orientierung“ kann man sich im Buch in der Tat gut orientieren.

Mehr als 200 Jahre deutsche, österreichische und tschechische Geschichte werden epochenweise in Kapitel portioniert, dazu führen zwei Rundgänge jeweils zur Festungs- und Gettozeit – „Spurensuche“ genannt – direkt zu wichtigen Schauplätzen und Gebäuden. Das letzte Kapitel schließt mit der Gegenwart: Die Autoren berichten, dass in der Stadt das Bewusstsein für das kulturelle Erbe aus der Kaiserzeit wachse; seit kurzem wird die Festung umfangreich instand gesetzt und rekonstruiert und ist inzwischen Anwärter auf das Weltkulturerbe der Unesco.

„Sie müssen sich nur die Zeit nehmen, sich alles anzuschauen“, laden die Autoren, die gut fünf Jahre an dem Buch gearbeitet haben, im Vorwort den Leser ein. Nach der Lektüre von „Theresienstadt. Eine Zeitreise“ und dem Betrachten der Bilder möchte man das gern tun.

Uta Fischer, Roland Wildberg: „Theresienstadt. Eine Zeitreise“, Verlag Wildfisch, 368 Seiten, 29,80 Euro

Erstellt am: 12. Juni 2013

Einsortiert unter: Allgemein