Tipp: Reisereportage über Theresienstadt im Hamburger Abendblatt

23. Januar 2013

Tschechische Idylle mit düsterem Hintergrund

Das böhmische Theresienstadt lebt mit seiner Vergangenheit als KZ. Doch das Weltkulturerbe hat noch andere, sehr überraschende Seiten.

von Roland Wildberg

 

Theresienstadt ist verblüffend schön. Wer mitten auf dem Hauptplatz steht und sich in der Kleinstadt-Idylle dieser pittoresken alten Häuser vor der malerischen Kulisse des böhmischen Vulkangebirges umschaut, fragt sich unwillkürlich, ob nicht ein Irrtum vorliegt. Ob es wirklich hier war, das Getto während der deutschen Besatzungszeit, in dem zwischen 1941 und 1945 Zehntausende zu Tode kamen.

Wo war das Getto? Das fragen mitunter sogar ehemalige Häftlinge, die nach Jahrzehnten der verdrängten Traumata die Stätte ihres Leidens noch einmal aufsuchen. Häufig streikt ihre Erinnerung. Im Stadtbild finden sich kaum Hinweise, dass hier einmal ein berüchtigtes nationalsozialistisches Lager war. Es gibt keinen Stacheldraht und keine Wachttürme, stattdessen sind spätbarocke und klassizistische Fassaden artig in Reih und Glied angetreten, eine monumentale Kirche in ihrer Mitte.

 

Die Magdeburger Kaserne in There- sienstadt strahlt frisch renoviert. Erbaut für die Sol- daten des Habs- burger Reiches, diente sie zwischen 1941 und 1945 als Sitz der Jüdischen Selbstverwaltung im Getto. Heute beherbergt sie ein Museum und eine Begegnungsstätte  Foto: Wildfisch Verlag

Die Magdeburger Kaserne in Theresienstadt strahlt frisch renoviert. Erbaut für die Sol- daten des Habs- burger Reiches, diente sie zwischen 1941 und 1945 als Sitz der Jüdischen Selbstverwaltung im Getto. Heute beherbergt sie ein Museum und eine Begegnungsstätte

 

„Nachts, wenn die Stadt im Dunkeln liegt, habe ich oft dieses Grauen gespürt“, sagt Radek Vrany, der als Ingenieur bis vor wenigen Jahren in der Stadtverwaltung arbeitete. Er ist überzeugt, dass der Ort eine negative Aura behalten hat. Tagsüber im Sonnenschein, mit dem Zwitschern der Schwalben über den roten Ziegeldächern, ist nichts davon zu spüren. Kinder spielen in den Parks, alte Leute sitzen auf Bänken, die Glocken schlagen oben auf dem Kirchturm und gegenüber in der Pionierkaserne die Stunde.

Tatsächlich ist fast alles so geblieben, wie es war. Theresienstadt scheint aus der Zeit gefallen zu sein: Beinahe alle Bauwerke stehen seit 150 Jahren oder länger. Nur ein paar Autos zeugen von der Gegenwart. Abends bei Lampenschein, wenn kein Mensch mehr auf der Straße ist, fällt es am leichtesten, sich diese Stadt als das düstere Lager vorzustellen, das sie vier Jahre lang war.

Damals sah Theresienstadt fast genauso aus. Das zehntausendfache Leiden und Sterben vollzog sich vor und in dieser harmlosen Kulisse. Und sie wurde auch von den Häftlingen wahrgenommen: Es existiert die Niederschrift einer „Kunstführung durch Theresienstadt“ – sie belegt, dass im Sommer 1943 wöchentlich Vorträge mit anschließendem Spaziergang von Häftlingen für Häftlinge veranstaltet wurden.

Initiator dieser Exkursionen, in denen über die Baugeschichte und die kunsthistorischen Schönheiten der Stadt referiert wurde, war der ehemalige Universitätsprofessor Dr. Emil Utitz. Er war 1942 aus Prag nach Theresienstadt deportiert worden. Einer von Zahllosen, die auf Grundlage der rassistischen „Nürnberger Gesetze“ als Juden diskriminiert und systematisch aus der Gesellschaft hinausgedrängt wurden.

Utitz unternahm seine Führung nach 18 Uhr, wenn die Zwangsarbeit beendet und bis 21 Uhr freier Ausgang auf den Straßen war. Diese Kunstführung war Teil des reichen kulturellen Lebens, das die Häftlinge freiwillig veranstalteten – zur Unterhaltung im tristen Getto-Alltag und ein bisschen auch als Ausdruck des Widerstands, der geistigen Unabhängigkeit von den Unterdrückern. Utitz hatte Glück, er überlebte das Lager und wurde 1945 befreit.

Theresienstadt, offiziell „jüdisches Siedlungsgebiet“, war faktisch ein KZ, bewacht von tschechischen Gendarmen unter Oberkommando der SS, aber es sah ganz anders aus als ein KZ: Es war und ist eine Stadt. Heute leben hier Menschen, die Theresienstadt – das die Tschechen Terezín nennen – in erster Linie als Wohnort mit hoher Lebensqualität schätzen. Ist das makaber? „Meine Freunde, die hier leben, wollen von der Gettogeschichte nichts wissen – um sich zu schützen“, sagt Jana Smolová. Die Mittdreißigerin ist in der Stadt aufgewachsen.

„Wir haben keine traurige Kindheit gehabt – aus dem einfachen Grund, weil die Geschichte des Gettos erst seit 1990 bei uns bekannt wurde.“ Natürlich habe man auch davor etwas darüber herausfinden können, aber es habe niemanden interessiert. Wenn Jana Smolová an ihre Kindheit zurückdenkt, erinnert sie sich an eine unbeschwerte Zeit mit Versteckspielen in der Festung. „Damals konnte da jeder hingehen, es hat niemanden interessiert.“

Heute hat die Stadt weniger als 2000 Einwohner, damals waren hier gleichzeitig bis zu 58 000 Menschen zusammengepfercht, aus Tschechien, später aus Deutschland, Österreich und vielen besetzten Gebieten. Die meisten blieben nicht – mehr als 88 000 wurden im Laufe der Zeit weiter nach Osten deportiert, in den sicheren Tod.

In Theresienstadt selbst war das bis kurz vor Kriegsende kaum bekannt. Im Vergleich zu Konzentrationslagern wie Sachsenhausen, Dachau oder Auschwitz-Birkenau waren die Zustände hier vergleichsweise menschlich: Ausschreitungen der SS kamen selten vor, es gab keine Sträflingskleidung, und eine jüdische „Selbstverwaltung“ versuchte Zwangsarbeit und Zusammenleben zu organisieren – zwar stets unter dem Damoklesschwert der Nazis, aber zu einem gewissen Grad autonom.

Das hat Theresienstadt in den Erinnerungen vieler Überlebender zur Stadt der Hoffnung gemacht, während die Lager im Osten, allen voran Auschwitz, als Orte des Schreckens und des Todes galten und entsprechend erinnert werden. Doch auch in Theresienstadt sind sehr viele Menschen gestorben, vor allem an Unterernährung und Krankheiten. Die Spuren dieser düsteren Tage sind erst auf den zweiten Blick sichtbar: geballt und geordnet in Gedenkstätten und Museen, aber auch wild und undokumentiert an Tausenden Stellen überall in der Stadt. Auf engstem Raum finden private Geschichtsforscher Getto-Graffiti, Hausnummern mit den damaligen Blockbezeichnungen, Reste von behelfsmäßigen Wohnungseinrichtungen auf Dachböden. Authentisch, ungesichert, halb verwittert. Und es gibt das zweite, weitgehend unbekannte Theresienstadt: die Festung.

Wer aus der Stadt in den Graben hinuntergeht, findet sich unversehens einer anderen Welt wieder. Eben noch waren Verkehrslärm und Stimmengewirr zu hören – nun ist höchstens das Zirpen der Grillen vernehmbar, die gigantischen Wälle stehen feierlich schweigend. Hier gedeihen seltene Pflanzenarten, im Dickicht brüten vielerlei Vögel. An den Entwässerungsgräben tummeln sich putzige Biberratten, die darauf warten, von den Kindern aus Terezín gefüttert zu werden. Die Natur hat in den vergangenen 100 Jahren die Festungsanlagen erobert. Dicke Mauern umschließen die Stadt von allen Seiten wie ein kunstvolles Labyrinth und sind der Grund dafür, weshalb der berüchtigte SS-General Reinhard Heydrich Theresienstadt als Lager auswählte: Ihre Mauern machten die böhmische Kleinstadt zu einem riesigen Gefängnis. So wie die Bastille, der Tower oder Alcatraz einst Festungen waren, aber später aufgrund ihrer exponierten Lagen zu idealen Kerkern wurden.

Folgt man diesem Gedanken, erkennt man in Theresienstadt von 1941 bis 1945 den größten Kerker der Welt. Die Festung ist ein Werk der Österreicher, benannt nach der Kaiserin Maria Theresia. Zu ihrer Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, galten die Wehranlagen als uneinnehmbar. Wer nach Westen durch den einzigen touristisch erschlossenen Zugang in den Graben spaziert, erlebt die Dimensionen des einstigen Grenzbollwerks: Drei Staffeln Wälle, jeder mehr als 20 Meter dick und turmhoch, wurden hintereinandergesetzt, Millionen Ziegelsteine wurden verbaut.

Zehn Jahre dauerten die Arbeiten an der Festung, für die man sogar den Fluss Eger um einen halben Kilometer nach Westen verlegte. Als 1880 mit dem Deutschen Reich Frieden geschlossen wurde, verlor die Festung ihre Funktion – und geriet in den kommenden 100 Jahren mehr und mehr in Vergessenheit. In jüngster Zeit beginnt man in Tschechien zu erkennen, welch reiches Erbe die lange ungeliebten Österreicher hinterlassen haben. Inzwischen hat Theresienstadt als spätbarocke Idealstadt und Festung einen Platz auf der Warteliste des Unesco-Weltkulturerbes. „Doch auch hier in Tschechien hat Terezín ein Stigma – vielen meiner Landsleute ist die Festung bisher unbekannt“, sagt Jana Smolová. Die Mitarbeiterin der Gedenkstätte verfolgt aufmerksam, wie sich die Stadt wandelt.

Stück für Stück werden nun einzelne Abschnitte der Festung instand gesetzt. Im Graben ist davon allerdings kaum etwas zu sehen – so bleibt vorläufig der Kontrast zwischen den Museen, die im Stundentakt von Touristen- und Schülergruppen besucht werden, und der stillen Wildnis drum herum. Der ideale Ort, um über gute wie böse Zeiten zu reflektieren, bevor man in die Gegenwart zurückkehrt.

 

 

Hier zum Artikel im Hamburger Abendblatt:

http://www.abendblatt.de/reise/article2406061/Tschechische-Idylle-mit-duesterem-Hintergrund.html

Erstellt am: 23. Januar 2013

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